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Unterwegs mit einer Ampel

Wenn Plexiglastafeln, kühle Wintertemperaturen und Desinfektionsspender den Blick auf das Wichtigste versperren:
Ein Kommentar zum Umgang mit einem wesentlichen, aber scheinbar vergessenen COVID-19-Übertragungsweg. Und wieso wir nicht alleine auf das Impfen schauen dürfen…

Bitte nun tief durchatmen, mit oder ohne Maske. Ein, Aus, Ein, und wieder Aus… Und überlegen, war da nicht mal was? Zu Aerosolen? Diese winzigen, unsichtbaren Partikel, die bevorzugt in Innenräumen in der Luft schweben, auch wenn man sie nicht sieht. Sie erinnern sich? Damals, zu Beginn dieser … Sie wissen schon … sagen wir pandemischen Endlosschleife. Als Virologe Drosten und andere erklärten, dass Schmierinfektionen wohl nur zu etwa knapp 10 % eine Rolle spielen, stattdessen Tröpfchen- und Aerosolübertragungen das SARS-CoV-19-Treiben bestimmen. Ohne Frischluftzufuhr und Verdünnungseffekt können Aerosole stundenlang in der Luft verbleiben, ähnlich wie etwa Zigarettenrauch, den man selbst im Freien noch lange riechen kann.
Doch scheint derzeit niemand mehr, außer vielleicht Lehrkräfte an Schulen, an diese einfache Hygienemaßnahme zu denken, dem regelmäßigen Luftaustausch. Egal in welche Innenräume man schaut, von diesem anerkannten und wichtigen Bestandteil aus dem viel zitierten Instrumentenkasten sieht man so gut wie nichts. Nur frappierende Handlungsunfähigkeit. Im überwiegenden Fall: Kein Lüften, keine Luftfilter, nicht mal einfache Anzeigen zur Luftqualität und zum Lüftungsbedarf, CO2-Ampeln genannt. Diese zeigen per Zahlenwert mit Einheit ppm (Parts per million, Anzahl der Teile/1 Mio.) und farblich an, ob und wann dringend Frischluft notwendig ist: Grün bis 800 ppm, orange bis 1200 ppm, danach leuchtet es nur noch rot. Experten raten, etwa für Klassenzimmer, wo die Messgeräte klugerweise zum Einsatz kommen, spätestens ab 1000 ppm die Fenster zu öffnen. Aber in anderen Bereichen? Fehlanzeige. Gerade im Gesundheitsbereich wären sie durchaus sinnvoll. Doch wie viele Arzt- oder Therapiepraxen, Friseure, Cafés oder Einzelhandelslädchen kennen Sie, in denen wirklich regelmäßig und richtig gelüftet wird (sofern nicht wie in wenigen Fällen oder in Krankenhäusern eine raumlufttechnische Anlage vorhanden ist)? Oder die eine simple CO2-Ampel nutzen, um im Alltagsbetrieb überhaupt ans Lüften zu denken? Ein gutes Gerät kostet dabei nicht einmal 80 Euro.

Die Plexiglas“barriere“
Für Schulen gilt die Regel, alle 20 min für 5 min zu lüften. Und auch die Empfehlung, die Messgeräte zu nutzen. Überall sonst herrscht, bei Publikumsverkehr, nur die Erkenntnis, das Winter herrscht. Passend dazu die Devise: Bloß niemanden frieren lassen. Die Möglichkeit einer Luftqualitätsanzeige scheint Praxisteams, Gastronomiechefs oder Geschäftsinhabern noch fremder als der Begriff Stoßlüften es je war. Derlei Verantwortlichen muss, wie auch Politikern, die Erinnerung an Covid-Übertragungswege völlig abhandengekommen sein. Wie fatal dieses Vergessen ist, zeigt sich nun. Wenn wir nicht nur eine Welle reiten, sondern eben gegen die besagte Wand laufen, ohne alle möglichen Register zu ziehen.
Denn während Studien belegen, dass allenfalls das Boostern vor der neuen Virusmutation und schweren Krankheitsverläufen schützt, tummeln sich in mancherlei kaum belüfteter Arztpraxis dicht nacheinander einbestellte Patienten. Während sich die Omikronfälle permanent erhöhen, quetscht man sie in volle Wartzimmer oder manövriert sie in fensterlose Behandlungszimmer, in denen keine 10 min später schon ein anderer sitzt. Die gleiche verbrauchte, möglicherweise virenverseuchte Luft ein- und wieder ausatmend. Es kümmert keinen, interessiert niemanden.
Während die Hinweise auf die Gefahren für Impfunwillige genauso wenig abebben wie die Demonstrationen, werden gefährdetere Gruppen ausgeblendet: Etwa Babys oder teils vorerkrankte Kleinkinder, manchmal weiß man es noch nicht mal, freilich ohne schützende Maske und ohne Impfmöglichkeit. In einer Physiopraxis werden sie bei gemessenen Werten von bis zu 1500 ppm therapiert – und womöglich infiziert. Und während gelegentlich betont wird, dass überhaupt nur der FFP2-Standard einigermaßen sicher schützt, trägt das niedergelassene Praxispersonal oftmals nur OP – wenn überhaupt: Gerade Rezeptionistinnen in „Gesundheitspraxen“ mit Kinn- statt Mund-Nasen-Schutz verweisen gerne auf die installierten Plexiglaswände, die man sich anscheinend als unüberwindbar für Aerosole vorstellt. Anstelle zu verstehen, dass die zu Pandemiebeginn errichteten Tafeln nur vor Tröpfcheninfektion schützen und, im Zeitalter der zumindest maskierten Patienten, überflüssig wurden. Sogar im abstandslosen Umgang mit selbigen ist für Medizinisch-Technische-Angestellte eine luftige OP-Maske vereinzelt eine Zumutung („Das kann ich nicht den ganzen Tag“). So gleicht die vermeintliche Plexiglasbarriere einer oftmals eingebildeten, unüberwindbaren Barriere im Kopf: Selbst nicht mehr zum logischen Schlussfolgern befähigt zu sein, wie man das Infektionsgeschehen eigenverantwortlich klein halten kann. Oder derart pandemiemüde, nur noch schulterzuckend-stumpfsinnig jegliche eigene Gestaltungsfähigkeit auszublenden. Oder ist es wirklich der Glaube, man selbst könne nichts verändern und geimpft, kein Virus an Gefährdetere übertragen?
Doch Saunen mit Maskenlos-Schwitzenden bei gemessenen 1200 ppm, Untersuchungszimmer von Ärzten mit sogar 1600 ppm, Warte- oder Besprechungszimmer mit 1300 ppm, Bio-Supermärkte mit 1500 ppm, nicht mal überfüllte U-Bahnen oder Schwimmbäder mit 1100 ppm, … – zu hohe Werte, an zu vielen Stellen. Cafés oder Pizzerien mit zig Gästen bei enger Bestuhlung, aber nur mit „Lüftung“ über die gelegentlich sich öffnende Tür … – schlechte Luft, egal wo man misst. Ein unsichtbares, unnötiges Risiko. Hat die 2021 erschienene Studie der TU Berlin zu den Aerosolwerten in verschiedenen Innenräumen, die vereinfacht und zugespitzt formuliert ein Ranking „gefährlicher“ und „weniger gefährlicher“ Innenräume aufstellte, manche geradezu beflügelt? Ein Freischein für das unbeschwerte und unbedachte Nutzen jedweder Innenräume, ganz ohne Frischluftzufuhr oder Luftfilterung, ist sie jedoch mitnichten.

Verantwortung sieht anders aus
Immerhin sind jüngste Verschärfungen hin zum Tragen von (hoffentlich richtig aufgesetzten) FFP2-Masken in Innenräumen oder im öffentlichen Nahverkehr ein sinnvoller Schritt. Wie auch die Entscheidung zu 3G in Zügen. Gerade bei der Deutschen Bahn, wo sich im ICE am ersten Ferientag nicht mal in der 1. Klasse – bei nur ein Drittel Sitzplatzbelegung – Werte unter 1000 ppm einstellen. HEPA-Filter? Schön wäre es. Wie erst die Werte und das Infektionsgeschehen in einer vollbesetzten 2. Klasse ausschauen, lässt sich erahnen.
Dass der alleinige Glaube an einen negativen, ohnehin nur mit durchschnittlich etwa 70 % verlässlichen Schnelltest dabei keine Berge versetzt, sondern nur in Omikron-Steilwänden gipfelt, lernen wir nun. Ein falsches Vertrauen, ein Denkfehler, den im Übrigen auch unsere sichtlich verwirrten Kultusminister tagein, tagaus betonen. Immer dann, wenn sie ohne Fachexpertise jenseits jeglicher RKI- und Virologen-Empfehlungen von „sicheren“ Schulen aufgrund des „engmaschigen“ Schnelltestkonzepts sprechen. Gänzlich vergessend, dass erst recht von Kindern selbst durchgeführte Antigentests, keinen Meter neben dem Sitznachbarn entfernt – Ha…tschi! – keine Infektionen verhindern. Siehe die Altersgruppe 5-14 Jahre als Inzidenz-Spitzenreiter. Die Corona-Warn-App jedenfalls würde sofort Alarm schlagen, wären schon alle Kleinen mit Mobiltelefonen ausgestattet.
Zumindest wird Frischluft an Schulen großgeschrieben. Doch eben nicht nur dort sieht Verantwortung anders aus. Auch die Privatwirtschaft und all die genannten Bereiche könnten mehr tun. Nur eine Minderheit von niedergelassenen Haus-, Zahn- und Fachärzten, Therapeuten oder Gastronomen, vielleicht auch von Friseuren, schöpft alle Möglichkeiten der Pandemiebekämpfung aus, taktet Besucherzeiten perfekt und stellt nicht nur räumlich korrekte, sondern auch zeitlich mehr Abstände her. Nur ein Bruchteil der seit 2 Jahren besuchten (und mittels CO2-Ampel „untersuchten“) Praxen lüftet gern und ausreichend. Oder verwendet Luftfilter und erhöht dadurch auch die Attraktivität des eigenen Betriebes. Ansonsten zeigt sich nach knapp zweijähriger Beobachtung noch immer ein krasses Bild: eine Collage aus Nachlässigkeit, Naivität, Resignation oder gar Ignoranz – teils gepaart mit dem Unwillen, einfache lüftungstechnische Begebenheiten zu akzeptieren, pandemische Zusammenhänge zu respektieren und Aerosole zu reduzieren. Stattdessen werden bevorzugt Desinfektionsorgien betrieben: Bei einem Pneumologen wird nur eingelassen, wer vor den Augen des Personals gefühlt 1 l Alkohol in seine Hände kippt oder von diesem bis zum Händewaschen auf die Toilette verfolgt wird.
Nun kann man auf fehlende Regeln und Vorschriften verweisen, auf – völlig zu Recht – mangelnde Informationskampagnen oder zu wenig Kontrollen und die Schuld in der überforderten Politik oder im föderalistischen Konstrukt suchen. Und sich fragen, warum zumindest der Einsatz von CO2-Ampeln in Innenräumen mit wechselndem Publikumsverkehr – wirkungsvoll sichtbar für alle Besucher! – nicht verbindlich vorgeschrieben wird? Zugleich zugebend, dass wir wohl alle zu lange an die Impfung als das alleinige Allheilmittel und Ausweg aus der Pandemie glaubten. Parallel dazu kann man aber auch den gesunden Menschenverstand und die Tatkraft derer appellieren, die überall und wenn auch nur im Kleinen das Pandemiegeschehen mitbestimmen. Mit dem Blick auf Dreifach-Impfquoten und endlose Impfplicht-Debatten stoppen wir jedenfalls weder kurzfristig Übertragungen noch zögern wir Omikronfälle wirkungsvoll hinaus. Noch weniger lässt sich in Deutschland schnell genug alles in jedes kleinste Detail regulieren. Es braucht folglich das Verständnis für die Covid-Übertragungswege und das verantwortungsvolle Handeln all jener, die jenseits der Politik Verantwortung tragen – für ihre Angestellten, für Patienten, Kunden und Gäste, ob kleine Ungeimpfte, Vorerkrankte oder ältere Schwächere. Und letztlich auch für sich selbst, die eigenen Kinder oder die eigenen Großeltern. Also öfter mal das Fenster aufreißen und tief durchatmen, Ein, und wieder Aus… – das tut sogar nicht nur in einer Pandemie gut.